Heute vor einem Jahr war ich mit Ida hochschwanger.
Heute vor einem Jahr ist meine Mutter gestorben.
Für die Trauerfeier sollte ich meine Mutter beschreiben, damit sich der Redner ein Bild von ihr machen konnte. Diesen Text habe ich gestern wiederentdeckt.
Es gab in meiner Kindheit nur uns beide. Wir beide gegen den Rest der Welt – abgesehen von meiner Lieblingsoma Ida und den Rest der Familie in Stadtoldendorf in Niedersachsen. Mein Vater lebte auf der anderen Rheinseite. Es hat sich aber angefühlt, als ob der Ärmelkanal uns trennte. Ich habe ihn selten gesehen.
Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, als ich sechs Jahre alt war. Deshalb hat meine Mutter früh angefangen, diese familiären Lücke durch enge Freunde aufzufüllen. Meine Geburtstage in der Kindheit haben wir mit ihren Freunden gefeiert. Das war herrlich. Eine etwas andere Familie eben.
Sie hat mir Liebe, Halt, Geborgenheit und Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten geschenkt und mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Auch wenn ich mich immer freischwimmen wollte, blieben wir eng verbunden. Egal wo ich gelebt habe: im Ausland, in Berlin, Hamburg oder München, für die Martinsgans bin ich im November immer nach Hause gekommen. Die Gans gehörte zu unseren Traditionen. Wir hatten eh viele Traditionen, die mit Essen verbunden waren. Sie war eine tolle Köchin: Ente in Orangensoße zu Weihnachten, schnelle Pastasoßen für den Alltag, Kinderessen für die Seele, Marmelade einkochen im Sommer oder auch ihre gemütlichen Grillabende. Nicht zu vergessen: ihr legendäres Curry-Rezept. Sie hat mit Gewürzen experimentiert und sich nie an Rezepte gehalten.
Was ihr wichtig war, dass wir in meiner Kindheit immer zusammen gefrühstückt und abends gemeinsam gegessen haben. Zur Abi-Zeit habe ich sogar noch Pausenbrote mitgenommen, die sahen nämlich aus, als ob ein Catering-Service sie mir belegt hätte. Ein Coolness-Faktor fürs Pausenbrot? So was konnte nur sie!
Ihre Kreativität und ihre Begabung aus wenig viel zu machen, hat sie an mich weitergegeben. Sie hat mich immer in meinen Träumen unterstützt. Nach der Schule nach England? Die Großeltern finanzierten die Uni, meine Mutter ließ mich ziehen. Pünktlich zum Einzug kam sie mit ihrem Werkzeugkoffer vorbei und das trostlose Zimmer in der WG wurde zum gemütlichen Heim. Studium in Paris? Auch das unterstützte sie. Noch ein Praktikum bei einem Frauenmagazin in Hamburg? Kein Problem. Sie hat immer sofort alles in Bewegung gesetzt, damit ich ein Dach über den Kopf hatte, mich wohl fühlte und ich an meiner beruflichen Laufbahn arbeiten konnte.
Meine Mutter hat immer an mich geglaubt und sie war auch sehr stolz auf mich. Manchmal war es alles auch etwas zu viel. Dann kam ich mir vor, wie in diesem Film, in dem Mutter und Tochter die Rollen tauschen und den Rücktausch-Trick nicht mehr finden.
Sie war großzügig, exzentrisch, liebevoll, bestimmend, lebensfroh und hatte ein großes Herz. Mal war sie lustig, dann ruppig. Mal laut, mal leise. Sie konnte ihre Laune in Sekundenschnelle ändern und hielt nicht so viel von Diplomatie. Sie war ein Unikat. Sie liebte ihre Unabhängigkeit. In den letzten Wochen ihres Lebens war sie teilweise zu schwach, um Dinge so zu erledigen, wie sie es kannte. Das hat sie genervt. Sie war müde. Mami, ich vermisse Dich.